Ein warmer Sommertag, 8 Jahre zuvor.
Flatternd erheben sich einige Tauben in die Luft. Es sind keine gewöhnlichen grauen Tauben, wie sie zu Tausenden in den Dachstühlen der Häuser und Kirchen der Städte leben. Dies sind zarte Vögelchen mit schimmerndem Gefieder in Teichgrün, Tiefblau, Königsblau, Zartrosa, Knallrot, Schwarz-Weiß und Bunt. Sie stammen aus dem Fernen Osten. Ihre Umrisse verschwimmen im grellen, orangen Licht der Abendsonne.
Ein nacktes Paar Kinderfüße rennt über den ungemähten Rasen eines großen Herrenhauses. Der Garten wurde vor langer Zeit sorgfältig angelegt, doch heute ist er ungepflegt und überwuchert. Die ehemaligen Formen der Hecken und Büsche kann man nur noch erahnen. In den Beeten ersticken die Blumen zwischen Unkraut und die mächtigen alten Bäume biegen sich unter der Last ihrer eigenen Kronen. Am Ende des Grundstücks liegt ein großer See. Ein verwitterter Steg lud vor kurzem noch zum Schwimmen oder zu einer Bootsfahrt ein; ein erwachsener Mensch würde nun wahrscheinlich einbrechen. Mitten im Garten steht ein hölzerner Taubenschlag, der mit seinen gestuften Terrassen ein wenig an einen mesopotamischen Turm oder die Tempel der Inka erinnert. Noch ist das große Vogelhaus nicht fertig. Ein Dach und zwei Seitenwände fehlen. Die Bretter dafür liegen bereits bereit, und auf einer wackeligen, selbstgezimmerten Werkbank warten Hammer, Nägel, Säge, Hobel, Winkel und dergleichen auf ihren Einsatz. Heute arbeitet hier jedoch niemand. Es ist immer noch warm, die Luft flimmert ein wenig.
Züngelnd schlängelt sich eine schwarze Giftschlange durch das knöchelhohe Gras auf das barfuß im Garten herumtollende Kind zu. Das lange schwarze Tier zischt. Doch das Geräusch geht unter im Zirpen der Heuschrecken, die irgendwo im hohen trockenen Schilf unten am Wasser lärmen.
Federn wirbeln umher. Eine einsame Taube flattert aufgeregt unter der Decke durch ein großes Esszimmer und prallt beinahe gegen einen der beiden protzigen Kronleuchter. In ihrer Panik findet sie den Weg nicht hinaus durch die über drei Meter hohen, weit geöffneten Fenster. Der Raum gleicht eher einem kleinen Festsaal, mit reich verziertem Stuck, goldgerahmten Gemälden an den dunkellila tapezierten Wänden und einem schweren, hölzernen Esstisch in der Mitte, an dem zwanzig Menschen Platz finden. Diesen umkreist mit schweren, polternden Schritten eine alte, gekrümmte Magd.
„Schu! Schu! Geh! Geh!“, ruft die gehässige, plumpe Frau, deren Mundwinkel wohl noch nie nach oben gezeigt haben. Dabei wedelt sie mit den Armen, als wolle sie selbst abheben. Mit ihrem hochroten Kopf sieht es aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Ihr graues Kleid aus schwerem, rauem Stoff gleicht einer weiteren Schicht alter Haut, die sie wie eine Last mit sich herumschleppt. Schweiß tropft ihr ins Auge. Wütend blinzelt sie und reibt sich mit den schrumpeligen Händen durchs Gesicht. Dabei verpasst sie, wie die Taube auf einem der Kronleuchter landet und mit ruckartig wackelndem Kopf von oben herabstarrt. Als die alte Magd wieder zur Decke blickt, kann sie das Federvieh nicht finden.
„Bitte sagen sie nichts meinem Mann“, erklingt eine zaghaft bittende Stimme vom Flur her.
Die Magd dreht sich um und sieht zunächst den konservativen, hochgewachsenen, schlaksigen Lehrer im Flur an der Tür zum Esszimmer vorbeistaksen. Gleich dahinter folgt eine zierliche junge Frau, gerade 30 Jahre alt, mit fast kindlichen Zügen. Das ist Marie, die Dame des Hauses. Man würde dieses schüchterne, unscheinbare Persönchen allerdings eher für ein Kindermädchen oder eine Kammerzofe halten. Sie versucht, den Lehrer aufzuhalten, kommt aber nicht an ihm vorbei. Der zieht ein langes Gesicht. Verbittert, beleidigt und gekränkt stelzt er in Richtung Haustür. Unter seinen Füßen knarzen die Dielen. Der Flur ist nur spärlich beleuchtet, sodass die dunkelgrüne Tapete mit den kleinen Schwänen eher schwarz und erdrückend wirkt. Einige alte, verstaubte Rehgeweihe hängen schief an den Wänden. Das Haus scheint muffig und seit mindestens zwei Generationen unverändert.
„Ich bringe es in Ordnung“, fleht die junge Frau.
Abrupt bleibt der Lehrer stehen und dreht sich zu ihr um. In jeder Hand hält er die Hälfte eines Buches, das eindeutig in der Mitte durchgesägt wurde. Er wedelt Marie damit vor der Nase herum. Die appelliert: „Mein Mann darf davon nichts erfahren. Biiiiiiiitte. Ich zahle für ein neues Buch beim nächsten Mal.“
„Es wird kein nächstes Mal geben!“, presst der Lehrer giftig zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich hätte von Anfang an auf den Rat und die Warnungen meiner Kollegen hören sollen. Ihr Kind ist kein Mädchen. Das ist ein Tier.“
Er fährt herum und stolpert über einen kleinen Kinderschuh, der auf dem Boden liegt. Beinahe landet er mit dem Gesicht voran auf den Dielen – was ihm mit Sicherheit ein paar Zähne und eine blutige Nase gekostet hätte. Er strauchelt, taumelt, kann sich aber im letzten Moment an einem der Rehgeweihe festklammern. Aufgebracht holt er pfeifend Luft und macht sich eilig davon. Gerade als die schwere Haustür krachend ins Schloss fällt, steckt die alte Magd den Kopf aus der Tür des Esszimmers und krächzt: „Sie hat die Vorhänge geklaut. Die hatte ich gerade erst gewaschen.“
Für einen kurzen Moment schließt die junge Frau die Augen und sammelt sich.
Mit „sie“ meint die Magd Maries Tochter. Und es ist auch ein einzelner roter Kinderschuh ihrer Tochter, der dem Lehrer beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Er liegt mitten im schummrigen Flur auf dem Boden. Die Mutter hebt ihn auf. Als sie sich wieder aufrichtet, muss sie leicht husten. Dann schleicht sie hinüber zum aufgeregten Gesicht der Magd, das noch immer aus dem Esszimmer hervorlugt.
Kurz darauf lehnen beiden Frauen jeweils aus einem der großen Fenster im Esszimmer und blicken suchend in den Garten. Dort gurren und tummeln sich weiterhin die Täubchen. Von der barfuß herumtollenden Tochter ist nichts zu sehen.
„Ninan! Ninaaaaaaaaan!“, ruft die Mutter, die in einer Hand das rote Schühchen hält.
Keine Antwort. Kein Kind. Die alte Magd runzelt finster die Stirn und stößt ein leises, abfälliges Geräusch aus. In diesem Augenblick flattert die Taube, die die ganze Zeit auf dem Kronleuchter ausgeharrt hat, nur wenige Millimeter über ihren Kopf hinweg ins Freie. Erbost schlägt die Alte nach dem Vogel, kann ihn aber nicht erwischen. Mutter hustet.
Und sie hustet auch, während sie, gefolgt von der in sich hineinfluchenden Magd, über einen kleinen Pfad durch den Wald eilt. Über ihnen rauscht der Wind in den Wipfeln. Die Sonne steht bereits tief, doch die Baumkronen sind so dicht, dass selbst tagsüber kaum ein Lichtstrahl den moosbedeckten Boden erreicht. Hier scheint immer Zwielicht zu herrschen. Es ist ein wilder, ein dunkler Wald. Ein Wald, in dem man sich verlaufen kann, der nicht zu Spaziergängen einlädt. Es ist kein Forst, in dem der Mensch das Sagen hat. Dies ist ein Urwald.
Mutter blickt sich um. Sie hat keine Angst, aber Respekt – genau wie der Fischer vor dem Meer und der Bergbauer vor dem Gebirge. Sie kennt sich hier aus, zumindest in diesem Teil, der gleich hinter ihrem Grundstück beginnt. Tiefer in den Wald würde sie sich nicht wagen, und auch hierher kommt sie nur äußerst selten, höchstens, um Pilze zu sammeln, frisches Moos für Wundverbände zu beschaffen oder natürlich, um verlorengegangene Töchterchen zu suchen.
Bald darauf erreichen die Frauen eine Lichtung. Als hätte jemand die Vorhänge beiseitegeschoben, stehen sie plötzlich im rötlichen Licht der Abendsonne. Vor ihnen liegt eine kreisrunde Wildblumenwiese, die in mindestens zwanzig verschiedenen Farben erstrahlt. Auf der Lichtung steht ein kleines Mädchen, acht Jahre alt. Sie ist barfuß und hält in einer Hand einen Stock, auf dessen anderem Ende sie die schwarze Giftschlange balanciert. Mutter bleibt ganz ruhig bei dem Anblick. Auch das Kind ist vollkommen gelassen. Es spricht freundlich, aber bestimmt mit dem glänzenden Reptil.
„Ich hab dir gesagt, du kannst den Garten besuchen, aber keine kleinen Tauben fressen. Denk drüber nach.“
Das Mädchen lässt die Viper runter und das Tier schlängelt sich davon.
„Und ich habe dir gesagt, dass du nie alleine in den Wald gehen sollst, Ninan! Viiiiiiiiel zu gefährlich … und dein Vater wäre außer sich, wenn er davon erfahren würde. Oooooooh ja.“
Nur Mutter nennt sie Ninan. Eigentlich heißt das dreckige kleine Mädchen Lotte. Egal wie oft die alte Magd das Kind badet, Lotte ist sofort wieder schmutzig. Der Dreck hinter ihren Ohren scheint schon beinahe angewachsen. Lotte streift umher, erkundet Hecken, Gräben, Felder, Wiesen, Höhlen – und natürlich den Wald. Das ist ihre Leidenschaft. Ihr blaues Kleid wurde schon zigmal geflickt. Ihre Haare sind zu sechs dünnen Zöpfen geflochten, die in alle Richtungen vom Kopf abstehen. Die Magd stöhnt jammernd auf, als sie sieht, dass Lotte die frisch gewaschenen, fast fünf Meter langen blauen Vorhänge wie eine Toga umgeworfen hat, wobei die Hälfte davon hinter ihr über den Waldboden schleift.
„Was für ein Sudelei! Was soll das sein? Eine Braut? Du wirst als alte Jungfer enden“, zeterte die alte, unverheiratete Magd.
Lotte antwortet, ganz in ihrer Rolle aufgehend: „Ich bin Inanna, Kriegsgöttin. Ich gehe in die Unterwelt.“
Liebevoll fällt ihr die Mutter ins Wort: „Du gehst in die Waschküche und bringst die Vorhänge zurück.“
„Aber ich will am Taubenhaus bauen.“
„Du hast genug Dinge zersägt für einen Tag“, beendet die Mutter das Gespräch.
Lotte schmollt. An das Buch des Lehrers denkt sie schon gar nicht mehr. Es gibt so viele Abenteuer an einem Tag zu bestehen, da kann man sich nicht an jede ruinierte Gardine, jede besiegte Giftschlange, jede erboste Hausangestellte oder jeden vergraulten Lehrmeister erinnern. Es gibt einfach zu viel zu entdecken. Und genau in diesem Moment erblickt sie etwas auf der anderen Seite der Lichtung. Im dunklen Schatten unter einem der Bäume steht eine Gestalt und beobachtet sie. Wie lange schon? Und hat Lotte diese Person wirklich entdeckt oder hat sie sich selbst zu erkennen gegeben?
Die Mutter hat davon noch nichts bemerkt; sie ist in sorgenvolle Gedanken versunken.
Wie soll sie ihrem Ehemann erklären, dass seine Tochter schon wieder einen Lehrer aus dem Haus gejagt hat? Es ist bereits der dritte in diesem Monat. Es spricht sich herum – und macht es immer schwerer, mittlerweile beinahe unmöglich, überhaupt noch jemanden zu finden, der bereit ist, Lotte zu unterrichten. Für die letzten beiden Lehrer musste Mutter bereits mehrere Kilometer in einen anderen Ort zurücklegen doch auch dort hatte man bereits von ihrer Tochter und deren unmädchenhaftem Betragen gehört.
Noch schlimmer wäre es jedoch, wenn ihr Mann von dem Buch erfahren würde. Wenn es eine Sache gibt, die er ganz und gar nicht ausstehen kann, dann ist es Geldverschwendung. Ja, er ist steinreich, einer der reichsten Männer des Landes und ja, er schmeißt sein Geld mit beiden Händen zum Fenster hinaus – allerdings nur für sich selbst. Vor allem versickert das Vermögen in den Kneipen der umliegenden Ortschaften und in teuren maßgeschneiderten Uniformen. Die Haushaltskasse ist jedoch auf den Taler, Groschen und Batzen genau abgezählt. Meist reicht es nicht und Mutter muss ihn um mehr Geld bitten, welches er nach ewigen Diskussionen und Vorwürfen über ihre Verschwendung und schlechte Haushaltsführung schließlich mit einem Seufzer herausgibt. Nein, er darf nichts von dem zersägten Buch erfahren. Sie wird eines ihrer Kleider verkaufen. Das ist in Ordnung, Kleider bedeuten ihr nicht sonderlich viel.
„Ist das die Wolfsfrau?“
Diese Frage ihrer Tochter holt Mutter ins Hier und Jetzt zurück. Kurz zuckt sie zusammen, als sie die dunkle Gestalt unter den Bäumen erblickt. Die Wolfsfrau, die Alte, die Kräuterhexe, die Irre aus dem Wald, die Hure, die Wilde – all diese und noch viele weitere Namen haben die Bewohner der Umgebung für die alte Frau, die ganz allein an irgendeinem Ort tief im Wald wohnt. Mutter fühlt sich immer unwohl, wenn die Alte im Städtchen auftaucht oder am Wegesrand ihre Waren und Elixiere verkauft. Allerdings nicht, weil sie ihr unheimlich ist oder auf sie herabblickt, sondern weil die Alte in ihr ein Gefühl von Unzulänglichkeit hervorruft. Aber da ist noch etwas, das sie jedoch nicht in Worte fassen kann. Und wenn sie ehrlich ist, ist die Wolfsfrau doch ziemlich unheimlich.
„Du wirst noch wie die alte Waldhexe enden!“, zetert die Magd schrill.
Mutter schaut ihre Bedienstete schief an.
„Ermuntre sie nicht noch“, und zur Tochter gerichtet: „Wir müssen zurück. Vater erwartet uns zum Essen.“
FORTSETZUNG FOLGT
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