Die Geschichte ist angelehnt an ein Deutschland um 1800 und ist doch ort- und zeitlo
Es war einmal und es war einmal nicht …
Dutzende gerupfte Tauben liegen in einer Backform. Die Vögelchen bekommen nichts mehr mit von dem wilden Tohuwabohu, das rings um sie herum herrscht. Die königliche Schlossküche gleicht einem Kochtopf, aus dem es an allen Ecken sprudelt und dampft und zischt. Das große, hell verputzte Steingewölbe im Souterrain mit vom Ruß geschwärzter Decke und kleinen Fenstern hoch oben in den Wänden brodelt vor Geschäftigkeit. Unzählige Bedienstete bereiten ein Festmahl zu. Die fantasievollen, bunten Speisen und Gerichte sind jedes für sich ein kleines Meisterwerk. Da gibt es zu Pyramiden aufgestapeltes duftendes Gebäck, Pasteten in allen Formen, Saucen in allen Farben, Gemüse aus aller Herren Länder, Fleisch von allem was sich schießen, fangen und ausweiden lässt, Fisch aus den sieben Weltmeeren und eine Unmenge an exotischen Speisen, die einen mit tödlicher Sicherheit vergiften, sollte man sie falsch zubereiten. Ganz zu schweigen von Pudding, Schokolade, Kuchen, Eis in solch rauen Mengen, dass es wirkt, als gäbe es nach diesem Abend auf Erden kein Gramm Zucker mehr. Köche wuseln umher, kosten hier, würzen dort, beträufeln Braten, wenden Kartoffelpuffer, schwenken Gemüse. Allein zehn Bäckerlehrlinge, in weißen Kitteln und auch sonst weiß vom Mehl, kneten sich unentwegt durch Berge von Teig. Kartoffelschäler schälen, Kochlöffel löffeln, Pfeffermühlen mahlen und doch hat dieses Chaos eine Ordnung. Niemand steht im Weg herum, jede Handbewegung sitzt. Wasserdampf und Mehlstaub vernebeln die Luft, nichtsdestotrotz sausen, huschen, schwärmen alle aneinander vorbei, ohne sich auch nur zu berühren. Es ist wie ein Tanz, ein Tanz zwischen scharfen Messern, randvollen Tabletts, offenen Feuerstellen und siedend heißen Töpfen.
Mitten in diesem lebendigen Wirrwarr steht eine junge, sehr zierliche Küchenmagd in ihrem einfachen schwarzen Kleid mit weißem Kragen und weißer Schürze – der Uniform, die von alle Bediensteten getragen wird. Das Kleidungsstück ist ihr ein wenig zu groß, aber sie wird schon noch hineinwachsen, denn dies ist ihr erster und letzter Job. Auffällig sind ihre roten Sommersprossen sowie die krause rote Haarpracht. Das Mädchen stochert mit einer Gabel, die sicherlich nicht für diesen Zweck gedacht ist, in der kalten Asche eines der vielen gemauerten Küchenöfen. Als sie sich mit Schwung umdreht, rempelt sie einen vorbeieilenden Hausdiener an, dem beinahe das Tablett mit zappelndem Wackelpudding in feinsten Kristallschalen entgleitet. Ein kurzes Knurren des Mannes lässt sie einen Schritt zurückweichen. Sie ist ganz eindeutig neu hier und noch kein Teil dieser verschlungenen Choreografie.
Die junge Küchenmagd sucht den Boden nach der Gabel ab, welche ihr bei dem Zusammenstoß heruntergefallen ist. Doch in dem Wirbel von vorbeieilenden Füßen ist das Besteckstück sicher längst in irgendeine Ecke oder unter irgendein Regal getreten worden.
„Wo sind meine Tauben?“
Das Mädchen blickt auf. Direkt in die zu fragenden und bedrohlichen Schießscharten zusammengekniffenen Augen der königlichen Hofköchin. Die ist eine kleine Frau und reicht ihrer jungen Untergebenen gerade einmal bis zur Nasenspitze, besitzt aber eine gewaltige Präsenz. Ohne Worte, nur mit ihrer bloßen Anwesenheit, dirigiert sie die Angestellten wie ein Admiral seine Flottille durch den Sturm. Gleich einem massiven Felsblock im reißenden Strom rauscht das Gewimmel um sie herum. Doch im Gegensatz zu einem Stein, der nach Jahren im Wasser rund und glatt wird, bleibt sie schroff und spitz. Die junge Küchenmagd kaut nervös auf ihrer Unterlippe herum. Aus dem Augenwinkel und drei Meter Entfernung erkennt die Hofköchin, dass der Ofen nicht heiß ist.
„Du hattest eine Aufgabe, Mädchen. Wir haben da oben 100 Prinzessinnen und Erzherzoginnen und Komtessen und Baronessen und Freiin und Fräuleins. Tanzen macht hungrig.“
„Ha, die fassen das Zeug nicht an“, donnert es fröhlich aus dem Hintergrund. Diese tiefe, klare Stimme, die jeden Tumult durchdringen könnte, gehört dem Hofbäcker. Ein Bär von einem Mann und genauso haarig. Dunkles Haar wächst oben aus seinem Kragen, auf den Händen, auf und aus seinen Ohren sowie der Nase. Unter den zusammengewachsenen buschigen Brauen funkeln zwei große, freundliche Augen. Er klopft seine mehligen Hände zusammen, dass es nur so staubt, und fährt fort: „Deren Korsetts sind viel zu eng. Da passt kein geschmorter Spargel mehr zwischen. Morgen früh kommt alles wieder hier runter und dann schlemmen wir wie der Zar von Konstantinopel, oder wie deren König auch immer heißt oder wo Konstantinopel auch liegen mag.“
„Sei’s drum“, wimmelt die Hofköchin ihn ab, „der König will ein prunkvolles Fest zu Ehren des Herrn Sohnemannes, also bereiten wir eines zu, keine Fragen, keine Fehler.“
Es ist offensichtlich, dass die erfahrene Küchenchefin kein Freund von Geschwätz ist. Da der Hofbäcker jedoch vielleicht am ehesten an so etwas wie einen Freund herankommt, obwohl die Hofköchin auch kein Freund von Freundschaften ist, weist sie ihn nicht zurecht. Die beiden arbeiten schon so lange gemeinsam hier unten, keiner von ihnen erinnert sich mehr ans erste Treffen. Es war sicher nicht außerordentlich freundschaftlich. Sie passen so gut zusammen, wie Zucker und Pfeffer, und irgendwie passt selbst das.
„Glaubt ihr, der Prinz wählt diesmal?“, fragt die junge Küchenmagd ganz aufgeregt, sodass sich neben ihren Haaren und den Sommersprossen nun auch noch ihre Wangen rot färben.
Die Hofköchin verdreht die Augen. So viel Unsinn hat es in ihrer Küche schon lange nicht mehr gegeben.
„Was interessiert’s dich? Glaubst du, er heiratet so eine Aschenkatze wie dich? Setz deinen dürren Hintern in Bewegung! Feuer! Husch, husch!“
Das naive Ding greift sich ein Holzscheit und umklammert es, als wäre es das Letzte, was ihr von einer verflossenen Liebe geblieben ist. Dann plappert sie los: „Nein, er ist in die mysteriöse Prinzessin verknallt, hab ich gehört. Aber das letzte Mal is sie einfach abgehauen. Hat ihn stehenlassen. Er ist hinterher, aber sie war schon auf und davon.“
Nun hat die Hofköchin endgültig genug. Dies ist eine Küche und keine Taverne, in der man Tratsch austauscht. Sie greift sich ein Tablett voller kleiner, quietschbunter Häppchen in hohen Kristallgläsern und drückt es der Küchenmagd in die Hände.
„So ein Zinnober! Bring das nach oben und lass es ja nicht fallen.“
Kaum hat sie die Worte ausgesprochen, landet das Tablett auch schon am Boden, wo alles klirrend zu Bruch geht. Entgeistert starrt die Küchenmagd an der Hofköchin vorbei. Mit einem Mal herrscht absolute Stille im großen Gemäuer, nur das Brutzeln der Pfannen und das Blubbern der Töpfe ist zu vernehmen. Das gesamte Küchenpersonal steht still und starr wie der zugefrorene See, den Blick gebannt in eine Richtung gewandt. Und selbst der resoluten Hofköchin ist für einen flüchtigen Augenblick die Überraschung anzumerken, als sie sich umdreht und sieht, wer sich in ihre Küche verirrt hat.
Dort an der Tür zum Treppenaufgang steht sie – die mysteriöse Prinzessin. Sie trägt ein schwarzes Ballkleid von rauer Schönheit. Die mehrschichtigen, dunklen Stoffe wirken, als würden sie schweben. Darin eingelassen Zeichen und Muster, welche im Zusammenspiel von Licht und Schatten aufschimmern. Vielleicht stellen sie Pflanzen, Bäume und Tiere sowie Tierskelette dar, einen Wald voller lebender und toter Geschöpfe. Auf den ersten Blick lässt sich das nicht genau sagen. Nur das Abbild einer Taube, eingewebt direkt über dem Herzen, ist zu erkennen. Doch alle sind so überrumpelt, sie könnten sich wahrscheinlich nicht einmal an die Farbe des Kleides erinnern. Das Gesicht der Adligen ist durch Wasserdampf und Mehlstaub, der in der Luft hängt, verdeckt. Sie ist wahrhaftig eine mysteriöse Prinzessin.
Männlein und Weiblein in der Küche machen einen Knicks oder Verbeugen sich. Einzig die vollkommen begeisterte junge Küchenmagd bleibt kerzengerade stehen, den Mund vor Staunen sperrangelweit offen. Die Hofköchin packt sie beim Rockzipfel und zieht sie hinunter. Höfische Etikette nicht zu befolgen kann einen bisweilen den krausen Kopf kosten.
Plötzlich ertönt im Treppenhaus das Gepolter von schweren Stiefeln. Flink huscht die mysteriöse Prinzessin quer durch die Küche, vorbei an der am Boden hockenden Küchenmagd. Nur einen kurzen Augenblick bleibt sie stehen, um eine Handvoll kalte Asche aus jenem Ofen zu greifen, den die Küchenmagd vergessen hatte zu befeuern. Die kann ihr Glück kaum fassen und flüstert: „Das ist sie. Sie haut wieder ab!“
Die Hofköchin deutet dem Mädchen, bloß still zu sein. Doch die ergreift ihre Chance und schaut kurz auf. Vielleicht, denkt sie, gelingt es, einen Blick auf das Gesicht der Mysteriösen zu erhaschen, die seit dem letzten Fest das ganze Schloss, wenn nicht gar das ganze Land, in Atem hält. Aber obwohl sie ihr direkt in die Augen schaut, kann sie keine menschlichen Züge entdecken. Etwas Dunkles, Verschlungenes, wie Äste bei Nacht vor dem Fenster, verdeckt und verzerrt das Antlitz der Prinzessin. Es ist, als habe diese Person gar kein Gesicht. Kurz bekommt die Küchenmagd Angst. Wer steht dort über ihr? Ist es überhaupt ein Mensch?
Mit der Asche in der Faust verschwindet die mysteriöse Person durch eine Tür am anderen Ende des großen Gewölbes. Kaum ist diese hinter ihr ins Schloss gefallen, als der Prinz auf der gegenüberliegenden Seite in die Küche stürzt. Sein kalter Blick jagt suchend durch den Raum, über die Köpfe der gebeugten und knienden Dienerschaft hinweg. Der breite, muskulöse Brustkorb hebt und senkt sich wie bei einem Tiger vor dem Sprung: angespannt, atemlos, absolut konzentriert. Mit dem kantigen Gesicht, vollem, lockigem, dunklen Haar und seiner Galauniform sieht er aus wie ein Prinz Charming, den sich jede Küchenmagd nachts auf ihrer einfachen Strohmatratze erträumt. Aber dieser Prinz ist ein wahrer Albtraum. Er knirscht mit den Zähnen und stiefelt in die Mitte des Raumes. Seine linke Hand spielt mit dem Knauf des Zierdegens. Seine Stimme ist emotionslos.
„Ich sage drei. Ich sage zwei. Ich sage eins.“
Noch bevor die überrumpelten Bediensteten überhaupt begreifen, was der Herr von ihnen will, packt dieser die sommersprossige Küchenmagd grob am Handgelenk und reißt sie hoch. Das Mädchen schreit auf, ohne dass ein Ton hervorkommt. Entsetzt müssen alle mit ansehen, wie der Prinz die zierliche Hand der jungen Magd in die Asche des Ofens drückt. Mit weit aufgerissenen Augen und schmerzverzerrtem Gesicht starrt die Küchenmagd auf ihre Hand. Erst dann begreift sie, dass der Herd ja kalt ist, dank ihrer eigenen Unbedarftheit. Ein kleiner Seufzer der Erleichterung entweicht ihr. Doch zu früh geseufzt, schon zerrt der Prinz sie zu dem gegenüberliegenden Herd, auf dem ein Topf randvoll wild brodelndem Wasser steht, in dem allerlei buntes Gemüse auf und ab blubbert. Er hält die Hand der Küchenmagd darüber und blickt in die ängstlichen Gesichter rundum. Ein kleines Lächeln huscht um die Mundwinkel des Prinzen. Menschen Angst machen, Macht ausspielen, ist sein liebster Zeitvertreib, er könnte es unentwegt tun. Beinahe verliert er sich in dem Moment. Entsinnt sich aber wieder weshalb er hier ist und wiederholt: „Ich sage eins.“
Damit drückt er die Hand der Magd weiter in Richtung der siedenden Gemüsebrühe. Die Lippen des Mädchens zittern. Ihr ist die Farbe aus dem Gesicht gewichen, aber sie hält ihrem Peiniger stand.
„Ich sage …“
Weiter kommt er nicht. Unzählige Arme schnellen nach oben, die gesamte Belegschaft deutet auf jene Tür, durch die die mysteriöse Prinzessin geflohen ist. Einzig der Hofbäcker, die Hofköchin und die junge Küchenmagd selbst geben nicht nach, obwohl Letztere wohl eher aus Schock, denn aus Kühnheit. Der Prinz lässt so plötzlich von dem Mädchen ab, dass ihre Hand beinahe ins Wasser sackt. Dann marschiert er zu besagter Tür hinaus, wobei er sie mit einem harten Schlag seiner breiten Handfläche aufstößt.
Vor ihm liegt ein langer, schummriger Gang, der nur von einigen wenigen Petroleumlampen an den Wänden beleuchtet wird. Zu jeder Seite gehen Dutzende einfache Holztüren zu Lagerräumen und ärmlichen Bedienstetenkammern ab. Einige davon stehen offen, die restlichen sind vermutlich verschlossen. Am anderen Ende des engen Korridors versucht die mysteriöse Prinzessin, einen Ausweg zu finden. Drei Türen hat sie noch nicht ausprobiert. Die erste ist verschlossen und hinter der zweiten befindet sich lediglich eine weitere kleine Speisekammer mit Regalen voller eingelegtem Obst. Bleibt noch eine Tür. Sie liegt genau gegenüber jener Tür, die zur Küche führt und in deren Rahmen steht nun der Prinz.
Verschlossen! Es gibt kein Entrinnen mehr. Die mysteriöse Prinzessin dreht sich zu ihrem Verfolger um, den Kopf zur Brust geneigt. Einige Haare hängen ihr ins Gesicht, sodass dieses wieder verdeckt bleibt. Als der Prinz bemerkt, dass sie nirgendwo hin kann, kostet er seine Überlegenheit voll aus. Langsam pirscht er sich an seine Beute heran, schnalzt mit der Zunge und knackt mit den Handgelenken. Nur zwei Schritte von der Frau entfernt bleibt er stehen. Einen Moment lang ist lediglich sein schwerer Atem zu hören. Sie hingegen ist völlig regungslos, als bräuchte sie keine Luft zum Leben, als sei sie nur der dunkle Schatten einer Person.
„Wollt ihr keinen Prinzen heiraten?“, fragt der Prinz. „Alle wollen den Prinzen heiraten“, fährt er düster fort, macht noch einen Schritt und steht jetzt ganz dicht vor ihr.
Sein Atem lässt zwei Haarsträhnen auf ihrer Stirn zittern. Und dann, in dieser kleinen Pause zwischen Ein- und Ausatmen, schießt plötzlich die linke Faust der mysteriösen Prinzessin in die Höhe. Doch bevor sie ihre Bewegung beenden kann, packt der zwei Köpfe größere und doppelt so breite Mann blitzschnell zu, umklammert ihr Handgelenk. Aus diesem eisernen Griff kann sie ihren Arm nicht lösen, egal, wie viel Kraft sie aufwendet. Zum ersten Mal wirkt es, als wäre diese zierliche Frau wirklich aus Fleisch und Blut.
„Na, na. Wer, wer, wer bist du?“
„Alle …“, sie ist kaum zu verstehen.
Der Prinz beugt sich noch etwas zu ihr herunter und sie flüstert ihm ins Ohr: „Alle nennen mich Aschenputtel.“
Kaum hat die mysteriöse Prinzessin diesen Namen ausgesprochen, reißt sie die geballte rechte Hand empor, öffnet sie und bläst dem überraschten Prinzen die Asche ins Gesicht. Sofort stolpert dieser zurück und schlägt die Hände vor die gereizten Augen. Einmal versucht er noch, sie zu öffnen und seine Widersacherin zu packen, doch das stechende Brennen zwingt ihn dazu, sich an der Wand abzustützen. Brüllend wie ein Hirsch und fluchend wie ein Seemann, reibt er sich durchs Gesicht, was alles nur schlimmer macht. Diese winzige Gelegenheit nutzt die Prinzessin, um an ihrem Verfolger vorbeizuschlüpfen. Dabei streift ihr weites, schwarzes Kleid seine Beine. Sofort greift er blind nach ihr, aber verfehlt sie knapp. Durch den kargen Gang eilt die mysteriöse Prinzessin zurück in Richtung Küche. Nur einen kurzen Augenblick stoppt sie, um aus ihren edlen schwarzen Slippern zu schlüpfen. Mit den Schuhen in der Hand läuft sie barfuß weiter.
In der Küche sind alle noch sichtlich geschockt von dem vorhergegangenen Vorfall. Es wird getuschelt. Verstohlene Blicke huschen immer wieder hinüber zu der Tür, durch die Jäger und Gejagte verschwunden sind. Der Hofbäcker krallt seine Finger in einen großen Klumpen Teig, sichtlich frustriert ob seiner Machtlosigkeit. Die Hofköchin hat ihre bleiche Küchenmagd auf einen Schemel gesetzt und klopft ihr mit dem Handrücken fürsorglich, aber doch entschieden, etwas Farbe zurück in die Wangen. Anschließend übernimmt sie wieder das Kommando über ihre Küche, bevor diese gänzlich zu einer schnatternden Landpartie ausartet.
„Zurück an die Arbeit! Jeder konzentriert sich auf seine Aufgabe.“
Und zur Küchenmagd gewandt sagt sie: „Atme zweimal tief durch, dann machst du ein Feuer und brätst die Tauben. Achte darauf, dass sie nicht austrocknen.“
Gerade wollen sich alle wieder ihren Töpfen, Kartoffelmessern, Tabletts, Kuchenglasuren und Weinkorken zuwenden, da fliegt besagte Tür erneut auf und die mysteriöse Prinzessin eilt zwischen den verdutzten Bediensteten hindurch Richtung Treppenaufgang. Ihr Antlitz ist wie zuvor von Haaren, Dampf und in der Luft hängendem Mehlstaub verdeckt. Schnell senkt die rothaarige, sommersprossige Küchenmagd ihren Blick. Mehr Mut kann sie heute nicht aufbringen. Diesmal ist der Spuk jedoch schnell vorbei. Wie ein dunkler Schatten huscht das geheimnisvolle Fräulein in Schwarz durch die Küche und ist schon wieder weg. Nur dem Hofbäcker fällt auf, dass sie barfuß ist. Ja, sie hinterlässt sogar ein paar weiße Fußspuren, nachdem sie durch ein wenig zu Boden gerieseltes Mehl läuft. Ein überraschtes, aber glückliches Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit. Als einziger hat er sie wiedererkannt: die Frau, die für alle nur die mysteriöse Prinzessin ist und die nun schon zum zweiten Mal davonläuft – vom pompösesten und bedeutsamsten Fest am Hofe, für eine Einladung zu selbigem sich so manch Adeliger seine Zehen abhacken würde.
Geschwind fliegen die nackten, zarten Füße die breite, gewundene Treppe hinauf. Sie führt in einen prunkvollen, hohen Korridor mit goldenem Stuck, riesigen Kronleuchtern an der Decke sowie einem schweren, blauen Läufer. Die Füßchen stoppen für einen Moment und krallen sich in die rauen Fasern des Teppichs. An den Wänden hängen gigantische Gemälde der Familien und Herrscher, die dieses Schloss in vielen Generationen bewohnt haben. Alle Porträtierten stecken in überbordenden, edlen Gewändern und sind geschmückt mit Degen, Kronen, Umhängen, Rüstungen, geliebten Schoßhunden, erlegtem Jagdwild sowie allerlei anderen Trophäen und Statussymbolen. Kunstvoll verzierte Flügeltüren, so hoch wie drei Männer und mit geschliffenem Buntglas, führen in Säle und angrenzende Flure. Die mysteriöse Prinzessin blickt nach links und rechts. An jedem Ende des Korridors stehen Wachen in edlen blau-weißen Uniformen. Sie wirken eher wie zusätzliche Verzierungen denn wie eine echte Garde, so sehr glänzen ihre Brustpanzer, Helme und Säbel. Die Männer entdecken die mysteriöse Prinzessin alle zeitgleich. Von beiden Seiten nähern sie sich im Laufschritt. Ihre Waffen, Scharniere und Gürtelschnallen klirren, ihre schweren Stiefel bringen die großen Dielen zum Erbeben.
„Lasst sie nicht entwischen!”, hallt der Ruf von den hohen, geschwungenen Decken herab und erstickt dann im dicken Teppich.
Der mysteriösen Prinzessin bleibt nur der Ausweg durch die ihr gegenüberliegende Tür. Einige Glasscheiben zerspringen, als sie die hohe Doppeltür mit voller Wucht aufstößt und diese links und rechts gegen die Wände schlägt. Vor ihr liegt ein weiterer langer Korridor, etwas enger und niedriger, aber noch immer imposant und genauso prachtvoll verziert. Zu beiden Seiten stehen Büsten, vermutlich derselben hochwohlgeborenen Herren und Damen wie auf den Gemälden zuvor. Dazwischen erleuchten mannshohe goldene Kerzenständer den Weg. Große Fenster zur Linken geben den Blick auf den nächtlichen Himmel frei und tagsüber auch auf den Wald, der jetzt bei Dunkelheit jedoch nur zu erahnen ist. Es ist finster dort draußen, aber in der Ferne, über dem Horizont, schimmert ein dünnes rotes Band. Die mysteriöse Prinzessin schenkt all dem keine Beachtung. Sie rennt so schnell sie kann, wobei der Luftzug ihres Kleides den Kerzen die Luft zum Atmen raubt, sie erstickt und den Flur hinter ihr in Dunkelheit taucht.
Die Stiefel und Stimmen kommen näher. Sie biegt nach links ab, eilt durch eine niedrige Tür und gelangt in einen kleinen, grünen Hof mit Sitzbänken und unzähligen Rosenbüschen, die alle in tiefem Rot blühen. Hier herrscht Stille. Die mysteriöse Prinzessin bleibt stehen und wartet, lauscht. Doch keiner ihrer Verfolger dringt durch den kleinen Zugang. Dann hört sie, wie drinnen einige Personen den Flur entlangstampfen. Die Tür klappert ein wenig in ihren Angeln, dann ist es ruhig. Flink huscht die Prinzessin durch den Hof und betritt auf der anderen Seite wieder das Schloss. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Sie läuft durch zwei weitere prunkvolle Gänge und gelangt schließlich zu einem der kleineren Tore, die in und aus dem Gebäude führen. Mit ihrem ganzen Körper stemmt sie sich gegen die fast vier Meter hohen Holztüren und erwartet im nächsten Moment, ergriffen zu werden. Doch die Wachen scheinen im Schloss nach ihr zu suchen. Die Tore öffnen sich einen Spalt, sodass die mysteriöse Prinzessin unbemerkt nach draußen schlüpfen kann. Hier hält sie für einen Moment inne. Vor ihr liegen gut 300 Stufen, die vom Hügel, auf dem der Palast thront, hinab zur Landstraße führen. Rundherum erstreckt sich der Wald. Am Horizont leuchtet das schmale rote Band am Nachthimmel. Es ist eindeutig kein Sonnenuntergang, sondern ein loderndes Rot, wie aus einem der heißen Öfen der Hofküche. Die Nacht ist warm. Ein schwarzer Tropfen fällt zu Boden. Mit der Hand wischt sich die mysteriöse Prinzessin durchs Gesicht. Die Innenflächen sind schwarz und feucht, sie schwitzt und zittert ein ganz wenig. Zum ersten Mal wirkt sie erschöpft, vielleicht sogar etwas verunsichert.
„Sie ist am Nordtor!“, brüllt es von oben herab.
Entdeckt! Die Prinzessin rafft ihr schwarzes Kleid hoch und eilt die Treppe hinunter. Langsam aber sicher geht ihr der Atem aus. Sie nimmt drei Stufen auf einmal und die sind tief. Sie stolpert, aber kann sich gerade noch fangen. Einen Blick nach hinten wagt sie nicht. Ob man ihr bereits auf den Fersen ist? Keine Ahnung. Sie erwartet jeden Moment eine Hand, die sie packt und zurückschleift. Ihre Gedanken rasen noch schneller als sie selbst. Und dann geschieht es: Sie macht einen etwas zu weiten Schritt. Ihr Fuß setzt auf der Kante der nächsten Stufe auf und rutscht sofort nach vorne weg. Sie verliert das Gleichgewicht. Versucht, sich noch einmal zu fangen, aber auch der zweite Fuß setzt im Leeren auf. Sie stürzt hart. Ihre dünnen Arme, Beine, Schultern schlagen brutal auf dem Stein auf. Sie rollt und überschlägt sich. Ihr Kopf donnert auf eine der Stufen, und aus ihrer Nase explodiert das Blut. Sie rutscht am Bauch noch zwei, drei Meter weiter und bleibt dann liegen. So regungslos wirkt sie wahrhaftig, wie der verlorene Schatten einer Adeligen, die hier vor ein paar Stunden, als die Abendsonne tief stand, in ihrem großen Ballkleid und begleitet von Zofen die Treppen erklommen hat. Ganz langsam rafft sie sich auf. Ihr ganzer Körper vibriert vor Anspannung, und trotzdem gibt sie keinen Laut von sich – weder beim Sturz noch jetzt. Sobald sie wieder auf beiden Beinen steht, läuft sie weiter, ein wenig langsamer als zuvor, aber dennoch entschlossen.
Zurück bleibt nur ein dunkler Blutfleck und einer ihrer kleinen schwarzen Schuhe. Dieser ist ihr beim Sturz entglitten. Im Schock hat sie ihn einfach vergessen. Nun steht der Slipper einsam auf einer der breiten Stufen am unteren Ende der Treppe. Oben am Schlosstor erscheinen, wild gestikulierend, die Umrisse der ersten Wachen. Wieder ist sie ihnen entwischt. Dem Prinzen wird das kaum gefallen.
In diesem Augenblick greift eine blutverschmierte Hand nach dem Schuh. Zunächst entgleitet er den zittrigen, feinen Fingern, dann packen sie richtig zu. Es ist die mysteriöse Prinzessin, die umgekehrt ist, um zu holen, was sie beinahe verloren hätte.
FORTSETZUNG FOLGT
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