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kapitel 3 – Göttin und Wolf

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Drei Gedecke. Das Essen ist vorüber, doch der Platz am Kopf des schweren, langen Holztisches bleibt leer. Das edle Geschirr und goldene Besteck unberührt. Rechts und links davon sitzen Mutter und Lotte einander gegenüber. Lotte hockt wie ein Eichhörnchen mit angewinkelten Beinen auf ihrem Stuhl, barfuß, wie immer. Sie sind fertig mit Abendessen. Wie so häufig wieder einmal allein. Mit einem Seufzer nickt Mutter der alten Magd zu, die in einer Ecke wartet und nun sofort energisch beginnt abzudecken. Mit den dreckigen Tellern und einer halbvollen Schüssel übriggebliebener Kartoffeln marschiert sie in Richtung Esszimmertür. Auf halbem Weg stolpert die alte Frau. Sie kann sich gerade noch fangen. Jahrelanger Dienst und ein eisernes Pflichtbewusstsein retten auch das teure Geschirr – sie hätte sich eher die Rippen gebrochen als das Porzellan loszulassen. Am Boden liegt der andere kleine Schuh von Lotte. Wütend zucken die Mundwinkel der borstigen Magd.

„Barfuß, wie die Wilden.“

Alle folgenden garstigen Sätze sind kaum noch zu verstehen; sie nuschelt sie in sich hinein, während sie das Zimmer verlässt. Im Flur stößt sie ein Geräusch aus, wie ein Hofhund, dem man im Mittagsschlaf auf den Schwanz getreten ist.

Mutter hebt das Schühchen auf. Lotte nutzt diesen Augenblick, um sich flink über den Tisch zu lehnen und eine Scheibe Brot aus dem Brotkorb zu greifen. Die verschwindet sogleich in ihrem dunkelgrünen Kleid. Ein Lächeln macht sich auf Mutters Gesicht breit, natürlich hat sie alles gesehen, lässt sich aber nichts anmerken. Sie pocht auf die dicke Tischplatte. KLOPF! KLOPF! Lotte wird sofort hellwach. Sie weiß, was jetzt kommt und sie liebt es. Mit verstellter Stimme beginnt Mutter, die folgnde Geschichte zu erzählen:

„Ich bin die Göttin des Krieges, der Gerechtigkeit, Schönheit, Liebe, Fruchtbarkeit, Sex und politischer Macht. Retterin des Huluppu-Baums“

Vor einem gigantischen Tor, so hoch wie zwanzig Pferde, in einem großen kahlen Berg, steht eine Gestalt und wartet auf Einlass. Es ist Nacht und weder Mond noch Sterne sind am Firmament zu sehen. Die dunkle Gestalt hebt gerade die Faust, um erneut anzuklopfen, als sich mit einem Knarzen die riesige Flügeltür einen Spalt weit öffnet. Einen Moment bleibt der Ankömmling regungslos stehen. Es ist unklar ob er oder sie zögert. Dann schlüpft die Gestalt hinein.

Sie steht in einer Halle so groß und dunkel, man kann weder Wände noch Decke ausmachen. Es ist als stünde man in einem schwarzen Loch. Alles was man erkennen kann ist ein weiteres Tor, von gleichen gewaltigen Ausmaßen, am anderen Ende des Gewölbes. Die Entfernung bis dahin ist kaum abzuschätzen, es könnten 200 Meter sein oder aber auch 10 Kilometer. Dies ist die erste Halle der Unterwelt. Im Schein einer einzigen Fackel entpuppt sich die dunkle Gestalt als mesopotamische Göttin Inanna. Sie trägt einen reich verzierten Turban, kostbare Juwelen und zudem einen edlen Brustpanzer mit Tauben Emblem. Ein blaues Seidenkleid, die Palla, schmiegt sich an ihren Körper. Hinter der Göttin schließt sich das Tor wieder. Ein letzter Windstoß fährt durch ihr Haar und den dünnen Stoff ihres Kleids. Sie ist nicht mehr allein. Ihr gegenüber steht Neti, der Torwächter. Ein kleiner, kahler Mann, der sie von unten beobachtet. In einer Hand hält er die Fackel, mit der anderen bohrt er in der Nase. Inanna fährt laut fort: „Ich bin die Tochter des An, dem Gott der Götter. Man nennt mich Königin des Himmels.“

Diese Worte imponieren den Torwächter Neti überhaupt nicht. Trotzdem antwortet er unbeeindruckt: „Beeindruckend“, und fährt fort, „Leider nicht hier. Kur ist der Ort den man nur betritt. Kur ist das Gegenteil des Himmels.“

Er hält die Hand auf und sagt ohne eine Miene zu verziehen: „Krönchen.“

Widerwillig händig Inanna ihren Turban aus und der Torwächter verschwindet damit in der Dunkelheit. Selbst der Schein seiner Fackel kann das tiefe Schwarz nicht durchdringen. Inanna bleibt allein zurück, und obwohl sie eine Göttin ist, wirkt sie ein wenig unruhig. Kur, die Unterwelt, ist selbst für eine Gottheit keine Alltäglichkeit.

„Ereshkigal?“, ruft Inanna in die Schwärze der Halle hinein. „Schwester?“

Doch ihre Worte werden von der Finsternis einfach verschluckt. Einen Moment herrscht absolute Stille und hätte sie ein menschliches Herz, so könnte man es schlagen hören. Dann öffnet sich das Tor auf der anderen Seite und Inanna betritt die zweite Halle. Wie zuvor, kann man auch hier weder Wände noch Decke ausmachen. Neti, der Torwächter wartet bereits auf Inanna. Der kleine Mann hat sich verändert. Auf den ersten Blick ist es nicht sofort ersichtlich, doch er ist ein ganz klein wenig größer und haariger. Seine Zähne und Fingernägel sind schärfer. Wieder hält er die Hand aus und fordert: „Perlen.“

Inanna reicht ihm ihr reich verziertes Halsband, woraufhin er erneut im Dunkeln verschwindet. Kurz darauf öffnet sich das dritte Tor. In den nächsten vier Hallen, gibt Inanna nach und nach all ihren Schmuck sowie ihren Brustpanzer ab. Der kleine Torwächter verwandelt sich von Halle zu Halle immer mehr in einen Wolf von der Größe eines Pferdes, mit Zähnen wie Säbeln, einem dicken grauen Fell und blitzenden blauen Augen.

Als das siebte Tor sich hinter Inanna schließt ist sie am Ziel ihrer Reise in die Unterwelt angekommen. Die siebte Halle ist anders. Obwohl immer noch so groß, dass ein ganzer Königspalast darin Platz hätte, sind hier die Wände und die Decke gut zu sehen. Sie bestehen aus purem Lapislazuli. Ein weiteres Tor gibt es nicht, stattdessen steht dort am anderen Ende des Saals ein Thron, ebenfalls ganz und gar aus Lapislazuli. Mitten im Raum liegt der Torwächter, der zum riesigen Wolf geworden ist. Langsam erhebt er sich und kommt auf Inanna zu. Die steht, nur noch in ihre blaue Palla gekleidet, still da und beobachtet das große Raubtier aus dessen Maul Speichel tropft. Selbst das graue Fell des Wolfs schimmert bläulich im Licht, das von den Wänden zurückgeworfen wird. Dann erklingt eine Frauenstimme und erfüllt den gesamten Raum.

„Sei zufrieden, Schwesterherz. Befolge das letzte göttliche Me der Unterwelt.“

Inanna zögert. Dann lässt sie das Kleid zu Boden gleiten und steht nun splitternackt in dem großen Saal –

„Warum ist sie nackt?“, unterbricht Lotte die Geschichte ihrer Mutter. Sie liegt samt Decke und Kissen unter ihrem Bett, statt obenauf. So mag sie es. Hier unten fühlt sie sich sicher und geborgen, wie der Wolfswelpe im Bau. Und wie jeden Abend sitzt Mutter am Boden neben dem Bett und wird so lange erzählen, bis der Tochter die Augen zufallen. Doch nun blickt Lotte sie fragend an.

„Weil Kronen und teure Kleider nicht wichtig sind“, antwortet Mutter. „Es geht nur darum was dort drin ist.“

Und damit tippt sie ihrer Tochter auf die Brust.

„Kartoffeln und Blumenkohl mit Soße“, kichert Lotte.

Mutter muss ebenfalls lachen.

„Genau, und du. Deine Kraft. Alles was du brauchst ist dort –“

„Können wir das Taubenhaus blau anmalen?“ unterbricht Lotte sie erneut. Mutter nickt liebevoll.

„Aber jetzt wird geschlafen.“

„Müssen Göttinnen schlafen?“ will Lotte wissen.

Mutter schüttelt schmunzelnd den Kopf.

„Dann werde ich Göttin oder Wolf!“ verkündet die Tochter und fletscht demonstrativ ihre kleinen Zähne.

Plötzlich schallt eine Männerstimme durchs Haus: „MARIE! MARIE! LOTTE! MARIE!“

Sofort zieht Lotte sich die Decke über den Kopf und verkriecht sich tiefer unters Bett. Von hier beobachtet sie, wie ihre Mutter die kleine Lampe auf dem Nachttischchen auspustet, aus dem Zimmer eilt und leise die Tür hinter sich schließt. Lotte rührt sich nicht. Sie kauert dort unten und lauscht hinein in die Dunkelheit. Irgendwo im Haus glaubt sie Schritte zu hören oder ist es nur das Pochen ihres eigenen Herzens. Der Mond scheint und taucht das große Zimmer in ein fahles Licht. Der Raum ist viel zu groß für ein so kleines Mädchen wie Lotte. Gerade zur Nacht bietet er viel zu viel Platz für unheimliche Gedanken. In jeder dunklen Ecke könnte sich jemand oder etwas verbergen. Lotte ist kein sonderlich ängstliches Kind aber das gilt für draußen. In der Natur fühlt sie sich geborgen und sicher. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal den Wald bei Nacht fürchten, das glaubt sie zumindest, ausprobieren konnte sie es ja noch nie. Doch dieses große, alte Herrenhaus mit seinen Fluren und zahllosen Räumen, den hohen Decken und den staubigen Gemälden, von denen einen den lieben langen Tag tote, verbitterte Vorfahren anstarren, mag Lotte gar nicht. Es ist voller Regeln und mürrischer Erwachsener. Ständig wird man gezwungen irgendetwas zu lernen, sich zu waschen oder aufrecht zu sitzen. Und in der Nacht verwandelt es sich in ein Labyrinth. Ihr Vater hatte es geerbt. Lotte weiß nicht, was das bedeutete, aber es muss etwas Schlimmes sein, wenn es darauf hinausläuft, dass man in so einem Haus leben und ständig Schuhe tragen muss.

„AAAAAAAAAAAAAHHHHH!”

Der Schrei einer Frau hallt durch das Haus und Lotte unter ihrem Bett hält den Atem an. Was für ein schrecklicher Laut. Und da ist noch ein bedrohliches Geräusch. Schritte. Jemand kommt die Treppe hinauf. Die Dielen im Flur knarzen unter den schweren Stiefeln die sich langsam ihrem Zimmer nähern. Dann geht die Tür auf und etwas warmes Licht fällt herein und mischt sich mit dem kalten Mondschein.
Ein großer Mann, mit einem Kreuz so breit wie der Türrahmen selbst, betritt das Zimmer. Er bleibt stehen. Lotte kann sein Gesicht von hier unten nicht sehen. Sie hört nur, wie sein Atem angestrengt in seiner Brust rasselt. Das Treppensteigen hinauf in den ersten Stock muss ihn ordentlich angestrengt haben. Er macht noch zwei Schritte auf das Bett zu und Lotte erkennt, dass der Mann humpelt. Sein rechtes Bein ist steif, sodass der Koloss es jedes Mal mit einer ruckartigen Hüftbewegung nach vorne wirft. Nun steht er so nah, dass Lotte seine alten, dicken, geschnürten Lederstiefel direkt vor sich hat. Einer der Schnürsenkel ist offen. Der Hüne brummelt etwas Unverständliches. Lotte kann ihren Blick nicht von dem Schnürsenkel abwenden. Ganz langsam schiebt sie sich vorwärts, sodass ihre kleinen Hände unter dem Bett hervorkommen. Sie greift nach den Lederriemen und bindet die Stiefel mit einer schlechten Schleife zu. Wieder ertönt das Brummen von hoch oben und dann kniet der große Mann unter Schnaufen schwerfällig vor dem Bett nieder. Sein kantiges Gesicht mit dem struppigen Haar kommt zum Vorschein. Ferdinand ist Hausdiener und Stallbursche in einem. Lottes geiziger Vater würde niemals mehr Personal einstellen und darum müssen Ferdinand und die alte Magd den ganzen Haushalt allein bewältigen. Eine unmögliche Aufgabe, die dazu führt, dass das große Anwesen jedes Jahr ein wenig mehr von seinem alten Glanz verliert. Lotte kann das nur recht sein, sie mag Sauberkeit und Ordnung nicht. Aber sie liebt Ferdinand. Er ist ein friedlicher Riese, sieht jedoch ein wenig aus, als würde er jeden Morgen zum Frühstück erst einmal zwei erwürgen. Glücklich betrachtet er die Schleife. Das Mädchen ist wie ein eigenes geliebtes Kind für ihn.

„Du hast nur zwei Beine,“ sagt sie.

Und Ferdinand brummt freundlich: „Eins und ’n Halbes.” Dann deutet er ihr, still zu sein. „Ich sag, ich hab dich nich gefunden.“

Unter angestrengtem Brummen erhebt er sich. Zu seiner Verwunderung kriecht Lotte unter dem Bett hervor und stellt sich vor ihn. Sie reicht ihm kaum bis zum Bauchnabel. Als sie seinen erstaunten Blick sieht, erklärt sie: „Sonst kriegst du nur Ärger.”

Der gewaltige Mann brummt gerührt. Er greift ihr Kleid, das über einem Stuhl beim Bett hängt und hält es ihr hin. Sie schlüpft hinein. Dann schaut er sich um, kann aber nicht auf Anhieb finden wonach er sucht. Lotte ertastet etwas in der kleinen Tasche vorne am Kleid. Es ist das Stück Brot, welches sie im Esszimmer eingesteckt hatte. Barfuß huscht sie zum Fenster und öffnet es. Das Brot bröselt sie auf die Fensterbank. Kaum ist sie fertig, landet bereits eine schwarze Taube und beginnt zu picken. Lotte lächelt, glücklich den Vogel zu sehen.
Unterdessen ist Ferdinand fündig geworden. Lottes zierlichen Schühchen standen in einer der dunklen Ecken, als habe sie jemand dort absichtlich verschwinden lassen wollen. Er greift sie mit seinen riesigen haarigen, braungebrannten Händen und hält sie Lotte vors Näschen. Die fletscht ihre Zähne, knurrt die Schuhe an.

Ferdinand folgt Lotte durch den Flur im ersten Stock. Die Kleine hat die Schuhe angezogen und geht so zögerlich, als wolle es gleich stehenbleiben. Plötzlich dringt erneut der markerschütternde Schrei einer Frau durchs Haus.

„AAAAAAAAAAAHHHHH!“

Erschrocken bleibt Lotte stehen. Sie blickt hoch zu dem Hünen an ihrer Seite. Ferdinand brummt hilflos. Am liebsten würde er sie auf seine Schultern setzen und einfach weg, irgendwohin. Aber wohin? Er hat kein Geld, kennt sich nicht aus in der Welt. Er wäre ein Entführer und man würde ihn aufgreifen und aufknüpfen. Genau wie das Kind neben ihm hatte er keine Wahl. Seit einiger Zeit versuchte er sich etwas lesen und rechnen beizubringen, in der Hoffnung eines Tages vielleicht eine eigene Zukunft aufbauen zu können. Doch wie das so mit der Zukunft ist, je länger man auf sie hinarbeitet, desto schneller schrumpft sie in sich zusammen.

Sie kommen zur breiten Treppe, die in einer U-Form nach unten führte. Ganz langsam steigen sie nebeneinander ins Erdgeschoss. Auf halber Treppe und von Ferdinand unbemerkt, schlüpft Lotte aus ihren Schühchen. Erst der Linke und auf der nächsten Stufe der Rechte. Die kleinen Schuh bleiben einfach zurück.

FORTSETZUNG FOLGT



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